Versorgungs-Report "Leitlinien - Evidenz für die Praxis"
Medizinische Leitlinien: mehr Evidenz in der Gesundheitsversorgung
In vielen Fällen dauert es sehr lange, bis evidenzbasierte Behandlungsempfehlungen aus medizinischen Leitlinien tatsächlich in der Praxis ankommen und die Versorgung der Patientinnen und Patienten flächendeckend verbessern. Das zeigt der heute vorgestellte Versorgungs-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) anhand ausgewählter Beispiele. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sieht großen Handlungsbedarf bei der besseren Implementierung von medizinischen Leitlinien in die Praxis.
Die Bilanz zur Leitlinien-Umsetzung in der Praxis fällt sehr gemischt aus. So zeigen die Auswertungen auf Basis von AOK-Routinedaten, dass Patientinnen und Patienten nach einem Herzinfarkt meist die in den Leitlinien vorgesehenen Medikamente wie Statine oder Blutverdünner erhalten. Aber es sind auch deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern erkennbar: beispielsweise sind Frauen schlechter versorgt als Männer. Sie erhalten deutlich seltener die angezeigten invasiven Therapieverfahren. Bei älteren Frauen ab 80 Jahren liegt die Behandlungsrate fast zehn Prozent niedriger als bei Männern des gleichen Alters.
Zu häufiger Einsatz von riskanten Arzneien bei Restless-Legs-Syndrom
Auch bei der Behandlung des Restless-Legs-Syndroms gibt es laut Versorgungs-Report deutliche Defizite in der Umsetzung der Therapieempfehlungen: In der aktuellen Leitlinie wird die Behandlung mit dem Medikament Levodopa aufgrund von hohen Risiken nicht mehr empfohlen. Die Analyse zeigt, dass etwa ein Viertel der diagnostizierten Patientinnen und Patienten trotzdem noch eine Dauertherapie mit diesem Mittel erhalten. 30 Prozent aus dieser Gruppe wurden sogar länger als zwei Jahre damit therapiert. Möglicherweise betrieben viele Patientinnen und Patienten zudem „Ärztehopping“, um an das Mittel heranzukommen. Um hier eine leitliniengerechte Arzneimittel-Therapie zu erreichen, ist noch viel zu tun.
Der Versorgungs-Report enthält auch Beispiele, in denen neue Leitlinien-Empfehlungen relativ schnell ihre Wirkung entfaltet haben. So gibt es seit 2016 eine Negativ-Empfehlung zu Kontroll- Koronarangiographien nach Erweiterungen der Herzkranzgefäße mit einem Ballonkatheter (PCI). Der routinemäßige diagnostische Herzkatheter wird nicht mehr empfohlen, wenn nicht zu erwarten ist, dass daraus auch eine therapeutische Konsequenz folgt. Hier hat die Empfehlung offenbar zu einem Umsteuern geführt. Seit Veröffentlichung der neuen Empfehlungen kam es zu einem deutlichen Rückgang bei den betreffenden Kontroll-Koronarangiographien.
Medizinische Fachgesellschaften sehen Handlungsbedarf
Die für die Erstellung und Verbreitung der Leitlinien verantwortliche Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sieht großen Handlungsbedarf bei der besseren Implementierung von medizinischen Leitlinien in die Praxis: Die Fachgesellschaften verfolgen dazu verschiedene Ansätze wie die Bereitstellung der Leitlinien in unterschiedlichen Formaten, die bessere Information und Weiterbildung der Ärztinnen und Ärzte, aber auch die Implementierung der Leitlinien in Qualitätsmanagement-Systeme wie bei den zertifizierten Zentren oder die Integration in Versorgungsmodelle wie die Disease-Management-Programme der gesetzlichen Krankenkassen. Auch die digitale Unterstützung der Ärztinnen und Ärzte könne sehr sinnvoll sein. Das AWMF-Leitlinienregister enthält etwa 850 Leitlinien von mehr als 100 federführenden Fachgesellschaften. Besonderen Wert lege die AWMF auf die Vermeidung von Interessenkonflikten. Diese Konflikte werden häufig durch die Bezahlung von Ärztinnen und Ärzten durch die pharmazeutische Industrie verursacht. Das Regelwerk der AWMF sehe hier wirksame Maßnahmen wie die transparente Offenlegung von Interessen der Teilnehmenden der Leitliniengruppen mit entsprechenden Maßnahmen wie Einschränkung von Leitungsfunktionen oder von Abstimmungen vor, um Verzerrungen aufgrund solcher Interessenkonflikte zu vermeiden.
AOK engagiert sich für Leitlinien-konforme Versorgung
Die AOK engagiert sich mit dem Angebot eines evidenzbasierten Qualitätsindikatoren-Systems für die ambulante Versorgung (QISA) und mit dem Projekt „Qualität in Arztnetzen – Transparenz mit Routinedaten“ (QuATRo) für eine Leitlinien-konforme Versorgung im ambulanten Bereich. Viele QISA-Indikatoren sind direkt aus medizinischen Leitlinien abgeleitet und bilden die Basis für die Messung und den Vergleich der Versorgungsqualität der Arztnetze im QuATRo-Projekt. Derzeit beteiligen sich 51 Arztnetze in zehn Bundesländern daran. Somit soll ein ganz konkreter Beitrag dazu geleistet werden, dass niedergelassene Ärztinnen und Ärzte die Leitlinien-Empfehlungen auch tatsächlich umsetzen.
Auch die aktuell diskutierte Krankenhausreform könne dazu beitragen, die Implementierung von Leitlinien zu verbessern. Eine gut aufgestellte Krankenhauslandschaft mit klarer Verteilung der Aufgaben führt dazu, dass sich die Behandlungsqualität und die Ergebnisse für Patientinnen und Patienten verbessern. Das zeige die Erfolgsgeschichte der Zertifizierung der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG), die auf Leitlinien basiere und die Versorgung der Krebspatienten nachweislich verbessere.
Leitliniengerechte Lungenkrebs-Versorgung durch Netzwerk
Im Versorgungs-Report werden auch konkrete Vertragsmodelle zur Förderung der Leitlinien-Anwendung vorgestellt. Dazu gehört das von AOK und Ersatzkassen unterstützte Nationale Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs (nNGM). Dieses Netzwerk zeigt, wie mit einer intelligenten Arbeitsteilung zwischen spezialisierten Zentren und Versorgern in der Breite ein kontinuierlicher Innovationstransfer erfolgen kann. Personalisierte Krebstherapien, die sich gegen spezifische Mutationen in den Tumoren richteten, würden zwar in der Leitlinie zum nicht–kleinzelligen Lungenkrebs empfohlen, aber bei etwa einem Drittel der Patientinnen und Patienten nicht durchgeführt. Durch die Behandlung im Netzwerk habe man die Diagnostik und Therapie der Betroffenen deutlich verbessern können. So zeige eine aktuelle externe Evaluation gegenüber einer Kontrollgruppe einen signifikanten Überlebensvorteil für Patientinnen und Patienten, die innerhalb des nNGM behandelt wurden.
Versorgungs-Report zum Thema Leitlinien mit 20 Expertenbeiträgen
Medizinische Leitlinien werden nach systematischen und evidenzbasierten Kriterien entwickelt und zielen darauf ab, die Versorgungsqualität für Patientinnen und Patienten zu verbessern. Als Patientenleitlinien sollen sie auch die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung verbessern. Der aktuell erschienene Versorgungs-Report „Leitlinien – Evidenz für die Praxis“ enthält 20 Beiträge von Expertinnen und Experten, die sich mit der Praxis von Leitlinien auseinandersetzen. Sie beschreiben unter anderem Methodik und Verfahren zur Erstellung und Evaluation von Leitlinien und berichten über die Ergebnisse empirischer Untersuchungen zur Umsetzung von Leitlinienempfehlungen in der realen Versorgung. Ein Analyseteil berichtet auf Basis von AOK-Abrechnungsdaten über die Häufigkeit von Erkrankungen und Behandlungen in Deutschland und nimmt dabei die Auswirkungen der Pandemie besonders in den Blick.